Piazzolla 100

TANZ UND TIEFE

RUDENS TURKU SPIELT PIAZZOLLA

Im Gespräch taucht eine Formulierung immer wieder auf: „in den Ton hineinsinken“. Der Geiger RUDENS TURKU verwendet sie, um zu unterstreichen, worum es ihm besonders geht: in die Tiefenschichten einer Komposition vorzudringen, und dabei die Lebensgeschichte des Komponisten und deren Einbettung in eine Zeit und ihre politischen Hintergründe präsent zu haben. Die Musik von Astor Piazzolla – konzertante Musik eines weltoffenen, in den USA aufgewachsenen Argentiniers mit italienischen Vorfahren – bietet ihm dafür besondere Gelegenheiten.

Wenn Turku über die Musik Piazzollas spricht, spürt man schnell mehr als Begeisterung. Turku sagt: „Piazzollas Familie war emigriert, genau wie meine eigene Familie nach Deutschland kam. Außer einem Geigenkasten in der Hand hatten wir nichts. Vielleicht ist das etwas, was mich mit diesem Komponisten und seinen Werke in der Seele verbunden hat.“ Eine auch biographisch begründete Identifikation also: Turku kam 1992 aus Albanien nach Deutschland. Über seine Arbeit mit Piazzollas Musikstücken sagt er: „Ich hatte das Gefühl, dass eine einzelne Note so ausgefüllt ist mit Klang, dass ich in jedem Ton eine eigene Reise erlebe. Das ist eine so innige Musik – voll Trauer, Verzweiflung; aber auch voll von einer Lebensfreude, die von Dunkelheit umhüllt ist.“ Turku setzt hinzu: „Diese Musik atmet und lässt uns Musikern die Freiheit, in ungewöhnlich besetzten Ensembles seinen Stil mit Sinnlichkeit und Rhythmus neu zu erfinden.“ An Werke von Béla Bartók fühle er sich manchmal erinnert – etwa in dem Stück Tanguango –, und deutliche Bezüge zu Johann Sebastian Bach gebe es sowieso immer wieder bei Piazzolla.

Im Studium bei Ana Chumachenco in München begegnete Turku 1999 zum ersten Mal einem Stück des Argentiniers. Ana Chumachenco hatte während ihrer Jugend in Argentinien gelebt. Eine Milonga habe er im Unterricht mit Chumachenco erarbeitet, sagt Turku. Und seitdem fessle ihn diese Musik.

ASTOR PIAZZOLLA wurde am 11. März 1921 im argentinischen Mar del Plata geboren und starb am 4. Juli 1992 in Buenos Aires. Er war der Begründer des Tango Nuevo, eines Tangos, der keine Tanzmusik mehr sein wollte, sondern Musik zum Zuhören. Einst der Klang der Kaschemmen und Bordelle, wurde der im 19. Jahrhundert im La-Plata-Delta entstandene Tango durch Piazzolla zur Kammermusik, die die Bühnen der ganzen Welt eroberte. Es ist Musik eines ehrgeizigen Komponisten.

Piazzolla: Sohn von aus Italien stammenden Eltern, die wegen ihrer wirtschaftlichen Situation von Argentinien nach New York weiterzogen. Begeisterung für Sport – aber auch in jungen Jahren schon für Musik, vor allem für Brahms, Mozart und Bach. Widerwillen gegenüber dem Tango, den sein Vater, ein Friseur, unablässig hört. Dennoch bald Unterricht auf dem Bandoneon, dem Hauptwerkzeug der Tango-Musiker, einem Blasebalg mit Knöpfen, entwickelt aus der Konzertina. Zurück in Argentinien, findet Piazzolla schnell Arbeit als Musiker, nicht zuletzt im Orchester des berühmten Aníbal Troilo. Parallel Unterricht bei dem Komponisten Alberto Ginastera. Mit 25 Jahren Gründung eines eigenen Orchesters. 1954 dann ein Europa-Stipendium für seine Komposition Sinfonietta. Unterricht bei der großen Kompositionslehrerin Nadia Boulanger, die ihn ermuntert, dem Tango treu zu bleiben und ihn zu verfeinern. Das tut er mit Hilfe des bei Boulanger geschärften Handwerkszeugs. Fuge und Kontrapunkt werden meisterhaft beherrschte Elemente seiner Stücke. Für seine Musik – die bis heute von namhaften Interpreten vieler Genres gespielt wird – muss er sich aber vor Tango-Traditionalisten immer wieder verteidigen. Zur Zeit der argentinischen Militärdiktatur (1976 bis 1983) lebt Piazzolla hauptsächlich in Italien.

Die Stücke auf dem vorliegenden Album – in Besetzungen vom Duo Geige / Klavier bis zur Bearbeitung für Solo-Instrumente und Orchester – decken ein breites Spektrum aus Piazzollas Schaffen ab. Fuga y misterio („Fuge und Geheimnis“ oder auch „Flucht und Geheimnis“), ein instrumentales Teilstück der Oper in 16 Bildern María de Buenos Aires von 1968, lässt in einem zackigen Beginn Tonketten durch verschiedene Instrumente wandern – hier nacheinander Bandoneon, Klavier, Geige, Cello – und mündet in einer innigen Kantilene der Geige. Tanguango ist ein frühes Stück, dessen Noten 1951 mit dem Zusatz „ein neuer argentinischer Rhythmus“ veröffentlicht wurden; es zeigt bereits Piazzollas ganze Kunst markanter rhythmischer Akzente und kontrapunktischer Finesse – hier zu hören in Bearbeitung für Geige und Klavier.

In sechs aufeinanderfolgenden Orchesterstücken tauchen einige der berühmtesten Melodien Piazzollas auf: etwa die Milonga del Ángel (aus der Suite del Ángel, 1962–65) mit ihrer berückenden Kantilene über sich wiegenden Harmonien; Adiós Nonino, ein berühmtes Stück, das Piazzolla 1959, wenige Tage nach dem Tod seines Vaters schrieb – und dessen ungemein zärtliche Melodie hier die Violine ganz alleine spielt, bevor das Bandoneon und das Orchester sich anschließen; die Balada para un loco („Ballade für einen Verrückten“), dessen Violinen-Intro mit kantiger Expressivität und leisem Flirren in 50 Sekunden eine Geschichte voller Kontraste erzählt. Libertango, Piazzollas Manifest des von überkommenen Traditionen befreiten Tangos, gibt dem seelenvoll gespielten Bandoneon Carel Kraayenhofs und der Violine Futter für emphatische Solo-Parts. Und Oblivion – wie das auch als Ave Maria bekannte Stück Tanti anni prima eine von zwei hinreißend schönen Kompositionen Piazzollas für den 1984 erschienenen Film Enrico IV – setzt mit Orchester und luftigen Geigenflageoletts ein, um dann dem Bandoneon und später der Solovioline die melancholische c-Moll-Melodie mit ihren sich über ganze Takte hinwegziehenden Seufzern zu überlassen. Der Block mit Orchesterstücken endet mit einer Hommage von Carel Kraayenhof an Piazzolla: Desconcierto, ein Titel, der „Bestürztheit“, „Ratlosigkeit“ bedeutet.

Besonders wichtig ist Rudens Turku das Stück Le Grand Tango – entstanden 1982 in Paris, daher auch der französischsprachige Titel. Ursprünglich für Cello und Klavier, ist es hier in einer Bearbeitung für Violine, Cello und Klavier zu hören. Das knapp elfminütige Werk in einem Satz enthält drei zusammenhängende Abschnitte. Der erste, „Tempo di Tango“, setzt mit kraftvollen Akzenten auf jedem ersten, vierten und siebten Achtel eines Taktes ein und entfaltet einen schier manischen Drive. Der zweite, „libero e cantabile“ (frei und singend), enthält in der vorliegenden Bearbeitung reizvolle Dialoge zwischen Geigen-Flageoletts und Klavier. Der dritte Abschnitt, überschrieben „giocoso“ (spielerisch), präsentiert sich energiegeladen und humorvoll – mit Stimmen, die umeinander her zu tanzen und voreinander Verstecken zu spielen scheinen. „Den Geist der Musik wiedergeben und bei den Musikern für Spielfreude und Spannung sorgen“, wollte Bearbeiter Alexander Krampe bei diesem und anderen Stücken: Das teilt sich sofort mit.

Bereits nach wenigen Takten dieses Albums können Zuhörer das, was Rudens Turku für seine Interpretationen hervorhebt: mit ihm „in den Ton hineinsinken“. Es ist ein besonderes musikalisches Erlebnis.
© Roland Spiegel 2021